5 Jahre Wahlnuss-Schule. Oder warum Hummeln doch fliegen können.

15. Aug. 2024

5 Jahre Wahlnuss-Schule. Oder warum Hummeln doch fliegen können.

Die Stirn gerunzelt, den Kopf in die Seite gelegt, so steht er schon eine Weile in der Aula. Beobachtend. Nachdenklich. In seinen Augen jedoch blitzt der Schelm. „Gibt es das?“ Anton Lah wendet den Blick in alle Richtungen, schüttelt ungläubig den Kopf. „Nenn mir eine Schule, wo die Kinder am Freitagmittag nicht aus dem Haus stürmen.“ Um ihn herum herrscht reges Treiben – Eltern schwatzen, Kinder lachen, wuseln, tuscheln. Aber die wenigsten ziehen ihre Schuhe an oder wirken, als hätten sie Eile.

Vor der Schultür das gleiche Bild. Träge steht die Mittagssonne über der Wiese und ein leiser Wind streicht durch die Krone des knorrigen Ahorns am Haus. Sanft rascheln die Blätter, als wollten sie das Geschnatter der Kinder nicht stören. Plötzlich ruft es hinter der geflochtenen Weidenhöhle: „Eine Hummel!“ Den rechten Zeigefinger am Mund, den linken lang ausgestreckt bestaunt Frida ihre Entdeckung.

 

Viele Gründe zum Abheben

Es war im Jahr 2019 als Maria Ramšak entschied, eine Schule zu gründen. Beruflich stand sie längst mitten im Leben, erfolgreich im Management und als Führungskraft, als Selbstständige und Autorin. Als Ehefrau und Mutter. Ihre Töchter hatten Regelschulen absolviert, Tanja arbeitete als Masseurin, Petra studierte Bauingenieurwesen. Bei Raphael jedoch, dem 2007 geborenen Sohn, verlief der Werdegang anders.

Während seine schulischen Leistungen als hervorragend gelobt wurden, litt der Junge unter dem sozialen Druck und Stress im Schulalltag. Maria Ramšak sitzt in der Schulaula am Tisch und erzählt von diesen Erinnerungen. Sie schiebt die Ärmel ihres dunkelgrauen Wollkleides zurück, verschränkt die Hände: „Es wurden Legasthenie und überdurchschnittliche Intelligenz getestet. Auf Anraten der Schulpsychologin sollte er mehr gefordert werden und sie empfahl eine Kinder-Uni.“ Das hieß, obwohl der Junge unter dem Druck litt, sollte noch mehr Druck aufgebaut werden.

Das kam für die Familie nicht in Frage. Raphaels Selbstbild und sein Selbstwertgefühl waren bereits stark angegriffen. Daher suchten Ramšaks einen anderen Weg der Bildung und entschieden sich schließlich für eine alternative Schule. Doch die langen An- und Abfahrten wurden bald zur großen Belastung.

So fiel die Entscheidung: „Wir gründen ein eigenes Bildungsprojekt.“ Für Raphael. „Und für wenigstens ein paar von den vielen Kindern, die wie er nicht ins Regelsystem passen.“ Die Pädagogin hält kurz inne, hebt den Kopf: „Wissen Sie, es ist bekannt und wird doch so oft vergessen: Die beste Bildung gelingt ganz ohne Druck. Kinder sind von Natur aus neugierig, sie wollen lernen und Wissen erwerben. Wir müssen sie nicht dazu drängen – sondern sie begleiten und fördern!“ Und zwar jedes Kind in seinem Tempo und seinen Stärken. Diagnosen wie Inselbegabung, Hochbegabung, Lese-Rechtschreibschwäche, Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefizit brauche es dafür nicht.

 

Ganz oder gar nicht

Gerade eilt Anton Lah mit weich federnden Schritten die breiten Stufen der Außentreppe hinunter in den Schulhof, er läuft zu Frida und ihrer kleinen Schwester Olja, um mit seinen Töchtern die Hummel zu beobachten. Deren schwirrende Flügel tragen sie gerade vom Rotklee zu einem Wiesenknopf, am buschigen Körper haftet Pollen. Lovro, der große Bruder der Mädchen, eilt vorbei, ist aber eher ins Fußballspiel als in den Hummelflug vertieft.

Lahs Blick folgt dem Jungen. „Wissen Sie, …“ Er richtet sich auf. „An dieser Schule kann ich Vater und Lehrer sein. Ich will mich nicht teilen. Meine Familie und unsere Kinder, …“ Die ausholende Bewegung seiner Hand macht klar, dass er alle Kinder der Wahlnuss meint. „Da will ich zu 100 Prozent da sein.“ Seine Arbeit macht ihm Freude, erfüllt ihn. Die klassisch-strikte Trennung zwischen Familie und Beruf, zwischen Arbeit und Berufung, die braucht er nicht: „Stecke ich Energie woanders rein, dann bin ich nicht hier zu 100 Prozent.“

Der 42-jährige Slowene und seine Frau Ivana arbeiten seit Anbeginn mit im Wahlnuss-Projekt: Anton Lah als Sportlehrer, Ivana als pädagogische Leiterin, beide engagieren sich zweisprachig, so wie die meisten im Wahlnuss-Team. Sie unterrichten die Primaria und Sekundaria, helfen in der Spielgruppe, betreuen Nachmittagskinder – und Anton packt auch immer mal als Hausmeister mit an.

Nur im Moment versenkt er die Hände tief in den Taschen seiner Shorts und grinst. „Rasenmähen brauche ich heute nicht.“ Wieder blitzt der Schelm aus seinen Augen: „Und morgen auch nicht.“ Wiese, Hochbeete, Waldgarten – das Schulgelände ist ein Öko-Projekt, bewirtschaftet nach den Prinzipien der Permakultur. Gemäht wird im Rhythmus der Natur.

 

Stets auf Augenhöhe

Was viele für die Natur längst verstanden haben: Unser Planet lebt von seiner Vielfalt. Das gilt für jede Spezies. Auch und gerade für uns Menschen. Doch statt bei Kindern die Diversität wertzuschätzen und sie darin zu unterstützen, ihre individuellen Stärken zu entfalten, geben wir sie in Systeme, die alle gleich behandeln. Und oft noch gleicher machen. Individualität geht verloren, Talente bleiben unentdeckt, werden nivelliert, manchmal zerstört. Gleichheit wird zur Ungerechtigkeit – weil sie vielem nicht gerecht wird.

Maria Ramšak winkt ab: „Dabei geht es auch anders, es gibt so viele tolle Bildungsprojekte!“ Wie die Wahlnuss. Familie Ramšak ist es 2019 gelungen, binnen weniger Monate und dank vieler helfender Hände eine Schule mit angegliederter Spielgruppe ins Leben zu rufen: Eine Einrichtung, die Kindern viel Raum für ihre Interessen und ihr eigenes Lerntempo lässt.

In ihrem Handbuch zur „Errichtung von privaten Bildungseinrichtungen in Österreich“ gibt die Unternehmerin eine Anleitung zum Gründen. In ihren ruhigen Augenblicken verrät sie, wie viel Kraft das manchmal kostet. Und, wie viel Erfüllung es bringt. Wann immer die Macherin Gelegenheit bekommt, will sie ermutigen und andere zum Gründen begeistern.

„Wir begegnen Kindern auf Augenhöhe.“ Sie schiebt eine Strähne ihres schulterlangen, graubraun melierten Haares hinters Ohr. „Das heißt, in der Wahlnuss sind es nicht immer nur wir Erwachsenen, die den Kindern sagen, was zu lernen sei. Sondern unsere Kinder erleben sich weiter als Gestalter ihres eigenen Lebens, als selbstwirksam und kompetent.“ Daher bewusst das „h“ in der Walnuss.

Auch Marias Sohn Raphael geht seinen Weg: Er erfüllte die Schulpflicht nahezu ohne Regelschule, besuchte die Wahlnuss und absolviert derzeit eine Ausbildung zum bautechnischen Zeichner. Im Frühjahr 2024 bestand der 16-Jährige die Mathe-Matura.

 

Die Kunst zu fliegen

Inzwischen liegt der Schulhof verlassen. Die Luft flimmert warm, Grillen zirpen. Das leise Rauschen der Baumwipfel lädt zum Tagträumen ein. Nur einer rumpelt noch. Anton Lah räumt die Tretautos und Fahrräder in einer langen Reihe auf, prüft die Schutzhelme der Kinder und nickt den letzten Familien einen Abschiedsgruß zu: Dagmar hat die Küche aufgeräumt, Alex den Boden gesaugt, Angelika hat in der Spielgruppe länger gebraucht, Janice und Stefan im Werkunterricht. Sie alle haben Kinder an der Wahlnuss. Sie alle helfen im Schulalltag.

Zuletzt, aufrechten Gangs und mit einem stillen Lächeln auf den Lippen, folgt Maria Ramšak. Wieder nickt Anton Lah zum Gruß, schaut dann erneut den Eltern auf ihrem Weg zum Schultor nach. „Wir können unseren Eltern nur Danke sagen.“ In seiner Stimme schwingt Anerkennung. „Sie vertrauen uns ihre Kinder an. Sie setzen sich mit unserer Pädagogik auseinander, und sie helfen uns in ihrer Freizeit, packen viel mit an.“

„Ja.“ Die Schulgründerin atmet tief aus. Denn noch etwas leisten diese Eltern: Anders als staatliche Schulen erhalten freie Privatschulen in Österreich nur wenig öffentliche Gelder und müssen sich aus eigener Kraft finanzieren. „Das gelingt nur mit dem Schulgeld, das unsere Familien zahlen.“ Dabei soll die Wahlnuss keine teure Elite-Einrichtung sein. „Deshalb sind wir dankbar, dass sich immer wieder Menschen und Unternehmen für uns begeistern und uns mit Spenden und Sponsorings unterstützen!“

 

Der Volksmund sagt: „Eine Hummel kann eigentlich nicht fliegen. Sie weiß das nur nicht und fliegt einfach.“ Die Wissenschaft sagt: Es kommt nicht auf die Größe der Flügel an, sondern auf so vieles mehr. Im September 2024 feiert die Wahlnuss ihren fünften Geburtstag.

 

Autorin: Friederike Grözinger (https://textig.de)

 

Urheberschaft: Wahlnuss-Schule Edling

 

Zeichen: 8.336

Wörter: 1.254

 


 

Information

Die Wahlnuss – Mit Kindern auf Augenhöhe

Eine Walnuss mit H? Mit H wie Herz und H wie Hirn? Und mit einem H wie „die Wahl haben“. Ja, denn all das macht das Wahlnuss-Projekt aus. Es wurde geschaffen, damit Kinder sich auch während der Kindergarten- und Schulzeit als Gestalter ihres Lebens erfahren, als selbstwirksam und kompetent.

Die Methoden fundieren auf jahrelanger Erfahrung, auf Wissen, Kompetenz und den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie. So trägt die Wahlnuss-Schule dazu bei, dass Kinder sich zu starken, fest im Leben verwurzelten Persönlichkeiten entwickeln.

 

Kontakt:

 

Wahlnuss-Schule, Edling 42, 9125 Kühnsdorf

Tel.: +43 699/15999132

E-Mail: info@wahlnuss-schule.at

Internet: www.wahlnuss-schule.at

 

Staatlich anerkannt mit Öffentlichkeitsrecht, SKZ: 208461